„Barbarisch“ ist ein Begriff, der abendländisch-westliches Selbstverständnis mitbegründet hat und zur tendenziell globalen Durchsetzung dieses Selbstverständnisses verwendet worden ist und wird. Bis heute hat der Begriff die im klassischen Griechenland des 5. Jh. v. Chr. aufkommenden ethnozentrischen Bedeutungen „menschliche und göttliche Ordnung verachtend“, „wild“, „grausam“ und „unfrei“ bewahrt wie auch die zugleich antithetische, ausschließende und ‚asymmetrische‘ (Koselleck) Struktur, die mit seiner Verwendung gegeben ist. In gesellschaftlichen Krisenzeiten kann sich die Funktion des Begriffs durchaus umkehren:
Die traditionell ausschließende Instanz wird dann zur ausgeschlossenen, und „barbarisch“ bezeichnet das Positive, von dem man sich die Überwindung oder Erneuerung der dekadenten Zivilisation verspricht (so z. B. in den Programmen der literarisch-künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jh.). Doch im Zuge dieser Um- und Aufwertung bleibt der Begriff Teil der antithetischen und asymmetrischen Relation, die sich als geschichtlich übertragbar erweist: Sie erhält sich in den aufeinander folgenden und einander überlagernden Begriffspaaren „Hellene vs. Barbar“, „Römer vs. Barbar“, „Christ vs. Heide/Barbar“, „Mensch vs. Unmensch/Barbar“ und auch „(Bildungs-)Bürger vs. Barbar“. Man kann also von einer Kontinuität der Intension des Begriffs bei gleichzeitigem Wandel seiner Extension sprechen.
Eine von der Antike bis zur Gegenwart reichende Geschichte des Begriffs gibt es jedoch noch nicht. Vor allem die neuzeitliche Begriffsgeschichte seit dem 18. Jh. ist unzureichend erforscht. Zur Schließung dieser Forschungslücke sollen drei Traditionslinien unterschieden und nachgezeichnet werden: erstens die neuzeitliche ethnographische und historiographische Verwendung des Begriffs und deren theoretische Auswertung, die von der historischen Anthropologie der Aufklärung über die evolutionistische Ethnologie des 19. Jh. bis zur Kulturtheorie der Gegenwart reicht; zweitens die rhetorische Verwendung des Begriffs als Feindbegriff, die sich von der neuhumanistischen Gleichsetzung des Barbarischen mit dem Inhumanen bis zur Hochkonjunktur des Begriffs in der gegenwärtigen politischen Rhetorik des ‚clash of civilizations‘ und deren massenmedialer Verbreitung erstreckt; drittens die literarisch-künstlerische Reflexion des Begriffs, die darauf aufmerksam macht, dass in diesem Begriff die Grundbedeutung des onomatopoetischen Lexems barbar- („unverständlich sprechend“, „sinnlose Laute produzierend“) und die Erfindung des mythischen Barbaren, die auf die griechische Tragödie zurückgeht, nach wie vor wirksam sind. So gesehen, hat die literarisch-künstlerische Reflexion das Potential, die Verwendung des Lexems als Begriff zu delegitimieren. Vor allem durch die Einbeziehung dieser dritten, ästhetischen Traditionslinie unterscheidet sich die genealogische Methodik des Projektes deutlich von derjenigen der herkömmlichen Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte.
Das Projekt wird finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Beginn des Projektes: 1. Mai 2013. Forschungsmittel wurden auch von der niederländischen NWO (Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek) zur Verfügung gestellt.
Das Projekt gliedert sich in drei Teile:
(1) Eine komparatistisch orientierte Geschichte des Begriffs „barbarisch“ vom 18. Jh. bis zur Gegenwart;
(2) eine germanistisch orientierte Einzelstudie (Habilitationsschrift) zur Reflexion der Semantik des Barbarischen in der Gattung der Idylle (von der Mitte des 18. Jh. bis zum frühen 19. Jh.);
(3) eine slawistisch orientierte Einzelstudie (Dissertation) zur russischen Begriffsgeschichte des Skythischen und deren literarischer Reflexion in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.
(1) stellt den historisch-methodologischen Rahmen von (2) und (3) bereit, deren Ergebnisse indes in (1) einfließen werden. Aus jeder der drei Komponenten des Projektes soll eine Buchpublikationen hervorgehen: aus (1) eine von einem Team zu verfassende zweibändige Monographie in englischer Sprache, aus (2) eine Habilitationsschrift und aus (3) eine Dissertation.
Standort des Projektes: Université de Genève
Verantwortlicher Gesuchsteller: Prof. Dr. Markus Winkler, Université de Genève
Mitgesuchsteller: Prof. Dr. Jens Herlth, Université de Fribourg
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter:
Prof. Dr. Maria Boletsi (Universiteit Leiden);
Prof. Dr. Christian Moser (Universität Bonn);
Dr. Julian Reidy (ETH Zürich);
Dr. Melanie Rohner (Université de Genève: Post-Doktorandin im Rahmen des Projektes);
Elena Tétaz (Université de Genève und Université de Fribourg: Doktorandin im Rahmen des Projektes).