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Die Dimensionen der Mehrsprachigkeit in Graubünden – Interview zur neuen Online-Publikation pluriling-gr.ch mit Dr. Oscar Eckhardt und Prof. Dr. Vincenzo Todisco

"Von einem viersprachigen ist die Schweiz zu einem vielsprachigen Land geworden. Diese Vielfalt zu pflegen und zu erhalten, darauf achten, dass die Minderheiten eine Stimme bekommen, ist eine grosse Herausforderung, der sich Politik und Schule stellen müssen."

Seit einiger Zeit ist die Internet-Plattform pluriling-gr.ch online. Ein Team aus Sprachkundigen der Pädagogischen Hochschule Graubünden und des Instituts für Kulturforschung Graubünden versucht, mit einer stetig wachsenden Online-Publikation, Hintergründe zur Bündner Mehrsprachigkeit und deren Besonderheiten aufzuzeigen. Mehrsprachigkeit in Graubünden: Existiert sie im Alltag tatsächlich oder ist sie eher als ein Konzept zu verstehen, das das Nebeneinander statt einem Miteinander verschleiert? Die Plattform pluriling-gr.ch möchte solche und andere Thesen aufwerfen, ergründen und diskutieren.

Dr. Oscar Eckhardt, Redaktionsleiter und Prof. Dr. Vincenzo Todisco, Redaktionsmitglied von pluriling-gr.ch beantworten im folgenden Interview exklusiv für unser Fachportal lang-lit.ch Fragen zur neuen Online-Publikation pluriling-gr.ch und zur schweizerischen und bündnerischen Mehrsprachigkeit mit all ihren Chancen und Herausforderungen für Gesellschaft und Individuum.

Das Redaktionsteam anlässlich einer Redaktionssitzung an der PHGR: Dr. Manfred Gross, Dr. Maria Chiara Janner, Dr. Oscar Eckhardt, Dr. Vincenzo Todisco, lic. phil Esther Krättli, lic. phil. Roman Caviezel (Foto: © pluriling-gr.ch)

Abstract des Interviews

Wenig Zeit? Lesen Sie hier die Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen der beiden Linguisten Dr. Oscar Eckhardt und Prof. Dr. Vincenzo Todisco.

In der Perspektive der Linguisten herrschen in der Mehrsprachigkeits-Diskussion viele Vorurteile oder falsche Annahmen vor, die sich mit wissenschaftlichen Studien widerlegen lassen. Die Initiant*innen des Projekts Pluriling wollen diesem Unwissen wissenschaftlich fundierte, aber leicht lesbare und öffentlich zugängliche Artikel entgegenstellen. Forschung, aber insbesondere auch Information und Diskussion im Bereich Mehrsprachigkeit ist laut den Experten nämlich in der Schweiz und in Graubünden von gesamtgesellschaftlicher Relevanz, da die Verständigung zwischen verschiedenen Sprachgruppen fundamental für deren Zusammenhalt ist. 
Erreicht werden soll dieses Ziel mit einer Online-Plattform, denn: «Was nicht gegoogelt werden kann, wird von vielen nicht wahrgenommen.»

Die Beiträge auf der Plattform thematisieren Mehrsprachigkeit aus soziolinguistischen, sozialen, sprachgeschichtlichen, methodisch-didaktischen, sprachrechtlichen, historischen und politischen Perspektiven Perspektiven. Wichtige Themenbereiche sind beispielsweise Chancen und Herausforderungen der Mehrsprachigkeit in der Schweiz und Graubünden, die Förderung von Mehrsprachigkeit, historische und soziolinguistische Dimensionen von Mehrsprachigkeit, das Verhältnis zwischen Mehrsprachigkeit und Politik und Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht.

Laut den Experten nimmt die Mehrsprachigkeit in der Schweiz klar zu. Die Schweiz sei «von einem viersprachigen [...] zu einem vielsprachigen Land» geworden. Dies bringt die Herausforderungen für Politik und Schulwesen mit sich, diese Vielfalt zu erhalten und darauf zu achten, «dass die Minderheiten eine Stimme bekommen». 
Im dreisprachigen Kanton Graubünden geraten insbesondere die Minderheitensprachen Romanisch und Italienisch unter Druck, wenn auch mehrsprachige Situationen auf der Strasse durchaus noch zu beobachten sind.

Wenn es laut den Experten auch letztlich die Individuen sind, die über das Verhältnis zu anderen Sprachgruppen entscheiden, so kann sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Forschung doch einen Beitrag dazu leisten, das Mit- und Nebeneinander der Sprachen zu verstehen und auch Probleme aufzuzeigen.
In der Öffentlichkeit werden nach Meinung von Oscar Eckhardt zu wenige sprachpolitische Debatten geführt. Die Plattform soll helfen, diese Diskussionen zu fördern.

Pluriling: Eine Plattform zur Mehrsprachigkeit im einzigen dreisprachigen Kanton der Schweiz

Wie ist die Idee zur Online-Publikation zur Bündner Mehrsprachigkeit pluriling-gr.ch entstanden? 

Oscar Eckhardt: Am Anfang stand eine pädagogisch-didaktische Motivation. Es gibt viele spannende Studien zur Mehrsprachigkeit oder zu deren Teilaspekten in unserem Kanton. Auf der anderen Seite gibt es in der Mehrsprachigkeits-Diskussion viele Vorurteile oder falsche Annahmen, die sich zwar mit Studien wissenschaftlich widerlegen lassen. Die Resultate der Forschung werden aber von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Beispielsweise hört man immer wieder, dass Kinder überfordert werden, wenn sie in der Schule eine zweite (Fremd-)Sprache lernen müssen,  oder dass Romanischsprachige schlecht Deutsch können. Wir wollten dem Unwissen wissenschaftlich fundierte Artikel entgegenstellen, die kompakt informieren und leicht lesbar sind. Aus diesem Grundinteresse entwickelte sich die Idee, eine Art Handbuch zur Mehrsprachigkeit Graubündens zu erarbeiten. Aus verschiedenen Gründen verschob sich dann der Fokus von einer gedruckten Publikation zu einer Online-Plattform, die aktueller und vor allem niederschwelliger erreichbar ist. Was nicht gegoogelt werden kann, wird von vielen nicht wahrgenommen.

Vincenzo Todisco: Weiter möchten wir mit der neuen Webseite die kritische Diskussion über die Drei- und Mehrsprachigkeit fördern. Die Mehrsprachigkeit ist ein Wesensmerkmal des Kantons Graubünden. Sie geht alle etwas an. Je mehr Menschen diese Mehrsprachigkeit mittragen und mitgestalten, desto lebendiger wird sie sein. Die Webseite ist ein Instrument, um am Thema Mehrsprachigkeit zu arbeiten, um (kontroverse) Diskussionen anzuregen und Meinungen auszutauschen.
 

Inwiefern ist eine Mehrsprachigkeitsdebatte aktuell in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht in der Schweiz und spezifisch in Graubünden besonders relevant? Weshalb wird in diesem Bereich mehr Forschung, Information und Diskussion benötigt?

Vincenzo Todisco: Die Schweiz wird als Willensnation definiert. Sie setzt sich aus vier Sprachregionen zusammen, Graubünden ist der einzige dreisprachige Kanton. Für ein solches soziolinguistisches Gebilde ist die Verständigung zwischen den verschiedenen Sprachgemeinschaften fundamental wichtig, denn sie gewährleistet deren Zusammenhalt. Mehrsprachigkeit ist mit Aufwand und Komplexität verbunden, vor allem dann, wenn Minderheitensprachen im Spiel sind. Schweizweit sind Italienisch und vor allem Romanisch Minderheitensprachen. Eine Nation kann man auch daran messen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Verminderte Bildungschancen aufgrund unzureichender Kenntnisse in der Mehrheitssprache sind aktuell ein wichtiges bildungspolitisches Thema. Forschung, Information und Diskussion können dazu beitragen, Ausbildungskonzepte- und Modelle auszuarbeiten, dank denen in Graubünden und in der Schweiz Sprecherinnen und Sprecher einer Minderheitssprache wie zum Beispiel Romanisch und Italienisch, aber auch Portugiesisch oder Albanisch, bessere Ausbildungschancen erhalten.
 

Wer steht hinter dem Projekt pluriling-gr.ch? 

Oscar Eckhardt: Das Projekt pluriling-gr.ch ist ein gemeinschaftliches Produkt der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR) und des Instituts für Kulturforschung Graubünden (ikg). Beide Institutionen betreiben selber Sprachforschung, wenn auch mit verschiedenem Fokus. Auf der einen Seite stehen vor allem didaktisch-methodische Fragen im Vordergrund, auf der anderen Seite Grundlagenforschung. Die Redaktion setzt sich aus VertreterInnen aller Kantonssprachen beider Institutionen zusammen: SprachwissenschaftlerInnen, DidaktikerInnen, Dozierende und Forschende. Die Plattform stellt auch einen Bezug zur Sonderprofessur für integrierte Mehrsprachigkeitsdidaktik (mit Schwerpuntk Romanisch und Italienisch) der PHGR her.

Innovative Formate: Informations- und Diskussionsplattform anstatt Fachzeitschrift

Welche Ziele verfolgt das Projekt? Welches Zielpublikum sprechen Sie mit der Internet-Plattform an?

Oscar Eckhardt:  Unser ambitiöses Ziel besteht darin, mit der Zeit zur ersten Anlaufstelle zu werden, wenn sich jemand mit dem Thema Mehrsprachigkeit in Graubünden beschäftigen möchte. Wir möchten solide Informationen vermitteln und auch Diskussionen zum Thema Mehrsprachigkeit ermöglichen. Als Zielpublikum stellen wir uns Leute vor, bei denen im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit in Graubünden Fragen auftauchen, sei es, dass sie eine Seminararbeit verfassen müssen, sei es, dass in einer kontroversen Diskussion Fragen auftauchen, die nicht so einfach beantwortet werden können. Mit den in pluriling-gr.ch abgelegten Beiträgen sollen die Rezipienten in der Lage sein, sich relativ schnell zu informieren und mit Hilfe der zitierten Literatur vertiefte Informationen zu gewinnen. Und nicht zuletzt möchten wir bei kontroversen Themen auch eine Plattform anbieten, die eine moderierte Diskussion erlaubt.

Vincenzo Todisco: In naher Zukunft möchten wir auch die Schulen ansprechen. Es gibt bereits viele Webseiten mit Unterrichtsmaterialien zu den Sprachen und zum Sprachenunterricht, aber unseres Wissens keine, die die Mehrsprachigkeit Graubündens aus der Sicht der Schule und für die Bedürfnisse des Unterrichts thematisiert. Wir stellen uns vor, dass Lehrpersonen, die mit ihrer Klasse ein Projekt zur Mehrsprachigkeit durchführen möchten, auf unserer Webseite die nötigen Informationen und Materialien finden.
 

Welche Vorstellungen von Wissenstransfer und Öffentlichkeitsarbeit verbinden Sie mit dem Projekt?

Vincenzo Todisco: Die Webseite dient der Information, dem Wissenstransfer und dem Austausch. Wir nehmen an Tagungen, Podien und Diskussionen teil, welche die Mehrsprachigkeit zum Thema haben. Wir bemühen uns, auf unsere Webseite aufmerksam zu machen, beispielsweise auch an Tagungen und Kongressen, und es ist geplant, die Webseite mehr und mehr in den Unterricht an Schulen einzubeziehen.
 

Worin bestehen die Vorteile des digitalen Formats der Online-Publikation? Welchen Mehrwert bringt dieses Format bezüglich Wissenstransfer und öffentliche Diskussion mit sich?

Oscar Eckhardt: Wir sehen in der digitalen Publikation vor allem vier Vorteile. Erstens sind die Daten weltweit und niederschwellig abrufbar. Zweitens können wir die Möglichkeiten der digitalen Publikation austesten und auch mit ihnen spielen: wir können, statt nur darauf zu verweisen, Digitalisate von Quellen verlinken oder Aussagen mit Tondokumenten belegen. Drittens ermöglichen digitale Publikationen, schnell und unkompliziert zu reagieren und Themen aufzunehmen, die in einem Handbuch eher keinen Platz finden. Wir denken da etwa an das Interview mit dem Präsidenten der Lia Rumantscha zum Jubiläum der Sprachorganisation. Wir können kurzfristig Fehler in den Texten beheben und neues Material einzufügen. Und viertens bietet das Plattform-Format auch die Möglichkeit zur Interaktion. Beiträge können durch Aussenstehende kommentiert und ergänzt werden. Dies erlaubt uns auch, pointiertere Thesen aufzustellen, da diesen ja problemlos eine Gegenmeinung gegenübergestellt werden kann.

Mehrsprachigkeit aus soziolinguistischen, sozialen, sprachgeschichtlichen, methodisch-didaktischen, sprachrechtlichen, historischen oder politischen Perspektiven

Welche Inhalte veröffentlichen Sie auf der Internet-Plattform und wie werden diese Inhalte präsentiert?

Oscar Eckhardt: Inhaltlich sollten die Beiträge natürlich in irgendeiner Form das Thema Mehrsprachigkeit umfassen. Das kann beispielsweise aus einer soziolinguistischen, sozialen, sprachgeschichtlichen, methodisch-didaktischen, sprachrechtlichen, historischen oder politischen Perspektive erfolgen. Jeder Beitrag umfasst in der Regel ein paar Thesen oder Grundfragen und ein Abstract in den drei Kantonssprachen. Der Beitrag selber erscheint dann meist einsprachig auf Deutsch, Italienisch oder Romanisch, kann aber in wenigen Fällen auch zweisprachig oder dreisprachig publiziert werden, je nach Wunsch und Möglichkeiten der Schreibenden.

Vincenzo Todisco: Es sind verschiedene Textformen möglich: Essays, Artikel, Studien, Interviews, aber auch Film- und Audiodokumente.
 

Welche Fragestellungen zur Mehrsprachigkeit in Graubünden sollen in diesem Projekt erforscht oder diskutiert werden und worin besteht die gesellschaftliche Relevanz dieser Fragen?

Vincenzo Todisco: Es sind selbstredend alles Fragen, die mit der Mehrsprachigkeit zu tun haben und alle Facetten der Thematik abdecken. Dazu gehören beispielswiese folgende Themenbereiche:

  • Mehrsprachigkeit in der Schweiz und in Graubünden als gesamtgesellschaftliches Phänomen – Chancen und Herausforderungen.
  • Wie gestaltet sich Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft?
  • Welche Chancen und Herausforderungen sind mit der Mehrsprachigkeit verbunden?
  • Wie kann Mehrsprachigkeit gepflegt und gefördert werden?
  • Wie können in einem mehrsprachigen Kontext sprachliche und kulturelle Minderheiten unterstützt und gefördert werden?
  • Wie ist Mehrsprachigkeit in ihrer historischen und soziolinguistischen Dimension zu bewerten?
  • Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Mehrsprachigkeit und Politik?
  • Wie gestaltet sich Mehrsprachigkeit in der Schule und im Unterricht? Welcher kann der Beitrag der Mehrsprachigkeitsdidaktik für die Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts in der Schule sein?

 

Was verstehen Sie unter Mehrsprachigkeit? Welche Dimensionen und Facetten kann Mehrsprachigkeit haben?

Vincenzo Todisco: Mehrsprachigkeit ist ein komplexer Begriff. Sie kann verschiedene Formen und Definitionen annehmen und auf verschiedene Weisen wahrgenommen und interpretiert werden. Eine häufige Frage lautet: wann kann sich eine Person zwei- oder mehrsprachig nennen? Auch dafür gibt es keine definitive Antwort. Man kann die Mehrsprachigkeit sehr weit fassen und davon ausgehen, dass es praktisch keine einsprachigen Menschen gibt, da jeder und jede eine oder mehrere Sprachen spricht, indem Dialekte, Regionalsprachen, Fachsprachen und andere Varietäten zu seinem Sprachrepertoire gehören. Man kann aber Mehrsprachigkeit sehr eng verstehen und voraussetzen, dass jemand nur dann zwei- oder mehrsprachig ist, wenn sie oder er die entsprechenden Sprachen sehr gut beherrscht, mit diesen Sprachen aufgewachsen ist und sie von klein auf natürliche Weise gelernt hat, diese Sprachen regelmässig und in allen Bereichen verwendet und sich mit ihnen identifiziert. Das wären dann die ausgeglichen oder fast perfekten mehrsprachigen Menschen, die sich in ihrer individuellen Mehrsprachigkeit wiedererkennen und als solche von den anderen wahrgenommen werden. Heute braucht man gerne den Begriff der «funktionalen Mehrsprachigkeit». Dies bedeutet, dass jeder Mensch ein Repertoire an verschiedenen Sprachen, zu verschiedenen Zwecken und auf unterschiedliche Kompetenzniveaus zur Verfügung hat. Dieses Konzept relativiert die jahrzehntelange Annahme, dass eine Sprache nur dann beherrscht wird, wenn sie formal einwandfrei gesprochen wird.

Die Schweiz: vom viersprachigen zum vielsprachigen Land

Worin bestehen aus Ihrer Sicht aktuell die Chancen und Herausforderungen hinsichtlich der Mehrsprachigkeit in der Schweiz mit ihren vier Landessprachen, aber auch hinsichtlich der migrations- und allenfalls globalisierungsbedingten Mehrsprachigkeit in der Schweiz? Welche Vor- und Nachteile kann Mehrsprachigkeit für Individuen und Gesellschaften haben?

Vincenzo Todisco: Auf die Herausforderungen, die mit der Mehrsprachigkeit verbunden sind, haben wir bereits hingewiesen. Die Mehrsprachigkeit kann aber durchaus auch Chancen haben. Es ist bekannt, dass das Beherrschen mehrerer Sprachen den Menschen Vorteile auf dem Arbeitsmarkt verschafft. Natürlich ist es unabdingbar, gute Englischkenntnisse zu haben, aber es ist noch vorteilhafter, wenn man zusätzliche Sprachen beherrscht. Trotz oder gerade wegen der Globalisierung ist die Welt mehrsprachiger geworden. Von einem viersprachigen ist die Schweiz zu einem vielsprachigen Land geworden. Diese Vielfalt zu pflegen und zu erhalten, darauf achten, dass die Minderheiten eine Stimme bekommen, ist eine grosse Herausforderung, der sich Politik und Schule stellen müssen. Gerade aufgrund der erhöhten Mobilität sollte schliesslich das Territorialitätsprinzip überdacht werden. Wenn man bedenkt, dass beispielsweise mehr als die Hälfte der italienischsprachigen Personen der Schweiz nicht in der Stammregion, dem Tessin oder Südbünden, sondern ausserhalb, leben, so müssen Strategien entwickelt werden, um diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Sprache zu sprechen und zu pflegen.
 

Nimmt die Mehrsprachigkeit in der Schweiz aus Ihrer Sicht zu? Inwiefern wirkt sich das auf die Sprache in einer Gesellschaft und auf individuelle Sprecher*innen aus? 

Oscar Eckhardt: Die Mehrsprachigkeit nimmt ganz klar zu. Das Bundesamt für Statistik hat dazu im Internet eine übersichtliche Seite zusammengestellt (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/sprachen.html). Die Befragten konnten mehrere Sprachen als Hauptsprache definieren. Die Statistik zeigt, dass im Jahr 2018 zwar noch rund 94 Prozent der schweizerischen Bevölkerung eine Landessprache als Hauptsprache bezeichnen. Mit 5,8 Prozent Englisch, 3,6 Portugiesisch, 3,1 Prozent Albanisch, je 2,3 Prozent Serbisch/Kroatisch und Spanisch sowie 7,6 anderen Sprachen als weiteren Hauptsprachen zeigt sich aber doch, dass 22.4 Prozent der Bevölkerung mit Nicht-Landessprachen mehrsprachig ist. Nicht erfasst sind in dieser Zahl die Sprecher*innen, die innerhalb der Landessprachen mehrsprachig sind, also beispielsweise die Italienischsprachigen in der Deutschschweiz. Viele Jugendliche verfügen heute über hervorragende Kenntnisse in einer zweiten Sprache, ohne dass sie diese als Hauptsprache bezeichnen würden. Die Schweiz ist zum Glück in der Situation, dass es keine grossen Parallelkulturen gibt. Für gewisse Schulen bedeutet die Mehrsprachigkeit aber schon eine grosse Herausforderung in dem Sinne, dass viel Integrationsarbeit geleistet werden muss, aber auch, dass es gilt, die vorhandenen Ressourcen im Sprachunterricht optimal zu nutzen.

Graubünden: Minderheitensprachen Italienisch und Romanisch unter Druck

Wie gestaltet sich die Mehrsprachigkeit im Kanton Graubünden? Welche Besonderheiten gibt es in Graubünden und welche besonderen Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus? 
 

Vincenzo Todisco:  Graubünden ist bekanntlich der einzige offiziell dreisprachige Kanton der Schweiz. Deutsch, Italienisch und Romanisch sind die drei Kantons- und Amtssprachen. Gleichzeitig sind sie auch Nationalsprachen. Das bedeutet aber nicht, dass die Bündnerinnen und Bündner alle dreisprachig sind. Deutsch ist die Sprache der Mehrheit, Italienisch und Romanisch sind hingegen Minderheitensprachen. Laut der jüngsten Strukturerhebung des Kantons (2018) sprechen 76% der Bündner Bevölkerung Deutsch, 14% Rätoromanisch, 10% Italienisch (Gesamtbevölkerung 169’268). Ihr Minderheitenstatus stellt Italienisch und Romanisch vor zum Teil grossen Herausforderungen. Romanisch kämpft wortwörtlich ums Überleben, während Italienisch dem Druck der deutschen Sprache standhalten muss. Laut einer Studie, die vom Bundesamt für Kultur dem Zentrum für Demokratie Aarau in Auftrag gegeben hat (2019), muss der Kanton Graubünden seine Bemühungen zum Erhalt und zur Förderung der Minderheitensprachen Italienisch und Romanisch deutlich intensivieren.

Oscar Eckhardt: Mehrsprachigkeit ist in Graubünden heute vielfach Etikette. Die Begrüssung zu einem Vortrag erfolgt dreisprachig, man schreibt Gebäude dreisprachig an, die Kommunikation selbst erfolgt aber auf Deutsch. Es fehlt vielfach auch der Mut, z.B. eine Speisekarte in Romanisch zu verfassen. Auf der anderen Seite stellt man auch fest, dass es durchaus auch auf der Strasse mehrsprachige Situationen gibt. In Chur hört man immer wieder, dass Italienisch, Romanisch, Deutsch und auch andere Sprachen selbstverständlich neben- und miteinander verwendet werden.
 

Was können sprachwissenschaftliche Forschung, Wissenstransfer, Öffentlichkeitsarbeit und spezifisch das Projekt pluriling-gr.ch zum erfolgreichen Bewältigen dieser gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen?

Oscar Eckhardt: Grundsätzlich gilt in der Schweiz gemäss Artikel 18 der Bundesverfassung die Sprachenfreiheit. Das heisst, dass niemand aufgrund seiner Sprache benachteiligt werden darf. In Bezug auf Sprachgruppen bedeutet dies, dass diese in Eigenverantwortung ihre Sprache sprechen und pflegen können und dürfen. Für die Minderheitensprachen Romanisch und Italienisch und Französisch sieht die Gesetzgebung zudem vor, dass die Minderheitensprachen mit staatlichen Mitteln gefördert werden. – Sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Forschung kann auf individueller und institutioneller Ebene dazu beitragen, das Mit- und Nebeneinander der Sprachen zu verstehen, die gemeinsamen historischen und sozialen und Wurzeln aufzuzeigen und allenfalls Defizite und Probleme aufzuzeigen. Konkrete Forschungsfragen sind zum Beispiel: Wie werden die Ziele der Gesetzgeber umgesetzt, geschieht das zielführend? Wie kann der Austausch zwischen den Sprachgruppen gefördert werden? Was trägt die Schule zum Verständnis der jeweils anderen Sprachgruppen bei? Kann dieses Verständnis optimiert werden? Welche Werte und Mehrwerte ergeben sich aus der Mehrsprachigkeit? Usw.
Letztlich aber sind es natürlich die Individuen, die über das Verhältnis zur Mehrsprachigkeit und zu den anderen Sprachgruppen entscheiden. Der Einfluss der Forschung ist vermutlich nicht so gross. Als Pluriling-gr.ch-Redaktion gehen wir davon aus, dass Mehrsprachigkeit grundsätzlich mehr als nur einen kulturellen Mehrwert darstellt. Es ist aber nicht das Ziel der Forschung und unserer Bemühungen, deshalb der eigenen Arbeit und der Situation gegenüber unkritisch zu sein. Wir können aufklären, wollen aber nicht indoktrinieren.
 

In der Medienmitteilung der Pädagogischen Hochschule Graubünden zur Internet-Plattformpluriling-gr.ch wurde folgende pointierte Frage aufgeworfen: «Existiert die Mehrsprachigkeit in Graubünden im Alltag tatsächlich oder ist sie eher als ein Konzept zu verstehen, das das Nebeneinander statt einem Miteinander verschleiert?» Wie würden Sie persönlich sich zu dieser Frage positionieren?

Vincenzo Todisco: Pointiert formuliert könnte man es so sagen: Graubünden ist offiziell dreisprachig, aber die Bündnerinnen und Bündner oder ganz allgemein die Bewohner des Kantons sind es nicht. Das ist natürlich eine starke Verallgemeinerung, aber damit ist gemeint, dass Mehrsprachigkeit und vor allem das gegenseitige Verständnis zwischen den Sprachregionen immer wieder neu thematisiert und ausgehandelt werden muss. Manchmal kann es wie eine Sisyphusarbeit vorkommen. Mehrsprachigkeit ist aufwändig, teuer, anspruchsvoll, kontrovers, oft zu elitär, aber es lohnt sich, sich für sie einzusetzen.
 

Minderheitenschutz, Minderheitenförderung und der Mangel an sprachpolitischen Debatten

Ist das Thema Mehrsprachigkeit in der Schweiz präsent genug? z.B. in der Politik, im Bildungskontext, aber auch im Beruf und Ausbildung. Welche Risiken geht die Schweiz ein, wenn sie dem Thema zu wenig Aufmerksamkeit widmet? Und wie gestaltet sich dies speziell im dreisprachigen Kanton Graubünden?

Vincenzo Todisco: Es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet. Für jemand, der sich tagtäglich in seiner beruflichen Tätigkeit mit Mehrsprachigkeit und mit mehrsprachigen Menschen auseinandersetzen, ist Mehrsprachigkeit DAS Thema. Es gibt aber andere Bereiche, wo diese Fragen als irrelevant und sogar überflüssig betrachtet werden. Nehmen wir als Beispiel die Debatte um die schulischen Fremdsprachen, die es in den letzten zehn- fünfzehn Jahren gegeben hat. Da sind Volksinitiativen zustande gekommen, sogar im dreisprachigen Kanton Graubünden, die die Fremdsprachen (Nationalsprachen) aus der Primarschule verbannen wollten. Die Argumente dafür waren auf die vermeintliche Überforderung der Kinder gerichtet, zeugten aber von einer geringen Wertschätzung der Nationalsprachen in den jeweiligen anderssprachigen Sprachregionen. Nachdem alle diese Initiativen abgelehnt worden sind, ist die Debatte abgeflacht, aber sie kann wieder aufflammen. Deswegen braucht es viel Informations- und Aufklärungsarbeit.
 

Auf der Plattform publizieren Sie insbesondere Texte zu aktuellen Themen. Welche Themen zur Mehrsprachigkeit in Graubünden sind aktuell besonders wichtig und weshalb?

Vincenzo Todisco: Grundsätzlich ist vorauszuschicken, dass Sprache an sich alle Bereiche des menschlichen Daseins betrifft. Wenn sich jemand sprachlich nicht ausdrücken kann, verschliessen sich ihm viele Bereiche: Zugang zu den meisten Berufen oder zumindest zu anerkannten Berufen und damit zu beruflicher Karriere, Zugang zu Kultur, Integration usw. Aktuelle Fragestellungen sind, wie zum Teil schon oben ausgeführt:

  • Minderheitenschutz und Minderheitenförderung
  • Verteilung von finanziellen Mitteln und was damit gemacht werden soll
  • Gemeindefusionen und Auswirkungen auf Sprachverhältnisse
  • An die Mehrsprachigkeit angepasste Lehrmittel
  • Aus Forschungsperspektive: verlässliche Zahlen zur aktuellen Sprachsituation
  • Rolle des Individuums in der ganzen Mehrsprachigkeitsdebatte
  • Integration von Menschen mit Migrationshintergrund – Stichwort: gleiche Bildungschancen

   

Welche gesellschaftlichen und/oder sprachpolitischen Debatten werden momentan geführt bzw. welche Themen und Fragen werden kontrovers diskutiert und weshalb? 

Oscar Eckhardt: Meiner Meinung nach werden in der breiten Öffentlichkeit keine oder zu wenige grundlegende sprachpolitische Debatten geführt. Die Diskussion, welchen Stellenwert die Minderheitensprachen in Graubünden haben sollen und wie weit die Pflege der Minderheiten in der Selbstverantwortung der Minderheitengruppen liegt, sind in einem gewissen Sinne tabuisiert.

Zu den Personen

Prof. Dr. Vincenzo Todisco ist Inhaber der Sonderprofessur Integrierte Mehrsprachigkeitsdidaktik Schwerpunkt Italienisch an der Pädagogischen Hochschule Graubünden und seit 2018 Redaktionsmitglied der Internetplattform pluriling-gr.ch.

Zum Porträt auf der Webseite der PH Graubünden

Dr. Oscar Eckhardt ist Projektleiter für linguistische Studien am Institut für Kulturforschung Graubünden, Senior Researcher an der Pädagogischen Hochschule Graubünden und seit 2018 Redaktionsleiter der Internetplattform pluriling-gr.ch.

Zur Webseite von Oscar Eckhardt (Institut für Kulturforschung Graubünden)